1、 Erinnerung und Erzhlprozess in Theodor Storms frhren Novellen (1848-1859) Autor: No-Eun Lee Erich Schmidt Verlage GmbH & Co., Berlin 2005 S10 Einleitung Das Thema der Erinnerung in Storms Werk ist schon von vielen Forschern untersucht worden, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Erkenntnis, das
2、s die Erinnerung in Storms Novellen inhaltlich und formal eine wesentliche Rolle spielt, stellt fr sich genommen schon lngst einen Gemeinplatz in der Forschung dar. Karl Ernst Laages Untersuchung Das Erinnerungsmotive in Theodor Storms Novellistik“ aus dem Jahr 1958 hat auf die weitere Forschung nac
3、hhaltig eingewirkt, indem sie frhere Forschungsergebnisse bndelte und perspektivierte und die verschiedenen literarischen Gestaltungsmglichkeiten der Erinnerungsthematik grndlich und differenziert untersuchte. Mit formgeschichtlicher“ Akzentuierung beschftigete sich im selben Jahr der amerikanische
4、Germanist Clifford A. Bernd konsequent mit der Erinnerungsthematik. Beide Forscher knnen als Pioniere fr diesen Themenbereich in den 50er und 60er Jahren gelten; sie hatten sich als erste mit dem herkmmlichen Urteil auseinander zu setzen, dass Storm mit seiner Erinnerungspoesie“, wie die ltere Deutu
5、ngstradition meinte, die qulenden Probleme des Lebens mit dem Schleier der Erinnerung zudecke, mrchenhafte Idyllen zeichne, die Wirklichkeit verharmlose“. Beide Forscher schlieen in ihren Textinterpretationen im brigen biographische Elemente nicht aus. Immensee“ (1850): Sammelnde und dichtende Erinn
6、erung an die verlorenen Jugendtrume C Die kollektive Erinnerung Regina Fasold registriert in ihrer Dissertation Die Rezeption der Dichtung Theodor Storms in Zeitungen, Zeitschriften und buchmonographischen Verffentlichungen zwischen 1850 und 1890“ zwei unterschiedliche Haltungen der zeitgenssischen
7、Kritik gegenber Storms frhen Dichtungen: einerseits die Ablehnung des krankhaften“ Zuges und die Klassifizierung Storms als eines Goldschnittpoeten, andererseits die Rechtfertigung seines dichterischen Vermgens, eine Zeitstimmung angenessen zu verarbeiten, und seine Erhebung zum wahren Poeten. Ludwi
8、g Pietsch und Robert Prutz gehren zur zweiten Gruppe, die die spezifisch resignative Grundstimmung der frhen Stormschen Arbeiten aus der Revolutionsereignisse bzw. die nachfolgende Restaurationszeit“ bezieht und dadurch die Resignationsstimmung in der Zeit nach 1848 objektiv neu begrndet“ findet. Wa
9、s man aber trotz der Meinungsverschiedenheit nicht leugnen konnte, war die Tatsache, dass die Novelle Immensee“ eine Lieblingsnovelle zeitgenssischer brgerlicher Literaturkonsumenten darstellte und schon zu Storms Lebzeiten in dreiig Auflagen erschien. Die breite Popularitt und Beliebtheit wird von
10、den Forschern in der Regel auf die angemessene Verarbeitung des Zeitgeistes, nmlich der postrevolutionren Katerstimmung“ zurckgefhrt. Dadurch bezieht sich diese Novelle, die kein politisches Thema direkt erwhnt, indirekt auf die politischen Ereignisse in Deutschland um 1850, unter anderem auf den vo
11、n den Dnen niedergeschlagenen Aufstand in Schleswig-Holstein. ber den Grund ihrer Beliebtheit scheint die Novelle bereits selbst zu reflektieren: Die Liebe Reinhardts zum Kulturgut des Volkes und seine sptromantische Argumentation zur Entstehung und Verbreitung der Volkslieder zeigen nicht nur seine
12、 Neigung, sich ans berlieferte und Erinnete zu halten, sondern weisen auf die grundlegende Idee dieser Novelle hin und darber hinaus auf den Grund, warum diese Novelle von zeitgenssischen Lesern so geliebt wurde: Reinhardt sagte: Sie die Lieder werden gar nicht gemacht; sie wachsen, sie fallen aus d
13、er Luft, sie fliegen ber Land wie Mariengarn, hierhin und dorthin, und werden an tausend Stellen zugleich gesungen. Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen htten.“ Die schnen Lieder sind ein kollektives Produkt, das bei seiner Herstel
14、lung jeder aus seinem Gefhl und seiner Erfahrung heraus mit gestalten kann, das von Mund zu Mund geht und bei dessen Singen und Hren jeder auf seine eigene Weise eine eigene Erfahrung im Sinn haben kann. Das trifft in der Tat auf Elisabeth und Reinhardt zu. Meine Mutter hats gewollt, Den Andern ich
15、nehmen sollt; Was ich zuvor besessen, Mein Herz sollt es vergessen; Das hat es nicht gewollt. Fr all mein Stolz und Freud Gewonnen hab ich Leid. Ach, wr das nicht geschehen, Ach, knnt ich betteln gehen ber die braune Heid! Ein altes Lied, das in aller Munde sein kann, hat fr Elisabeth, die inzwische
16、n aus einem frhlichen Kind zu einer stillen Frau geworden ist und ihre Gefhle nicht zeigt, Vergangenheit und Gegenwart wieder beleuchtet und sie beunruhigt: Whrend des Lesens hatte Reinhardt ein unmerkliches Zittern des Papiers empfunden“. Nach der Lektre tritt sie allein zurck. In diesem Augenblick
17、 wird ihr Schweigen zu einem lautlosen Schmerzensschrei und ein Volkslied zu Elisabeths Lied. Das Leiden der gescheiterten Liebe, das jedermann jederzeit an jedem Ort wiederholt erfahren kann, hat auch seinen Anteil an Elisabeths Leben. Das Glaube Reinhardts, dass die Volkslieder nicht auf einen ind
18、ividuellen Autor zurckzufhren sind, sondern wachsen“ und von Mund zu Mund“ weitergegeben werden, dass also alle daran mit helfen, gilt in gewisser Hinsicht auch fr diese Novelle. Dieses Lied und diese sentimentale Novelle trafen das Herz der Zeitgenossen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In einer Z
19、eit, in der man den Glauben an eine Einheit der Welt“ nicht mehr behalten durfte, in der die brgerlichen Intellektuellen nach dem Zerfall der idealistischen Denkmodelle mhsam nach einem neuen moralischen Orientierungspunkt suchten, in der die friedliche Idylle nicht mehr die gleiche bleiben konnte,
20、auch nicht einmal in der Literatur, in der man zwischen dem Geist der Tradition und dem eines erbarmungslosen Fortschritts noch keinen Kompromiss zu finden schien, da schien ein Erinnernder im Herzen des Volkes zu erwachsen: Reinhardt,der ruhig beobachtet und nachdenkt, sammelt und erzhlt, der trotz
21、 oder gerade wegen seiner Scheche einen Mittelweg als Dichter geht, der sich mit Abstand an die verlorenen Jugendtrume erinnern kann. Dass hier kein auktorialer Erzhler auftaucht, sondern sogar das Erzhlen seiner eigenen Geschichten symptomatisch und mangelhaft ist, entspricht auch der Unsicherheit
22、und Unberschaubarkeit, die Storms Zeitgenossen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erleben mussten. In der sich temporeich, aggressiv und kompliziert verwandelnden Welt wollte man gemeinsam mit Reinhardt anhalten, um einmal auf die Vergangenheit zurckzublicken und sich auf die Zukunft vorzubereiten. Autor: No-Eun Lee No-Eun Lee analysiert sie als narrative Experimente mit Erinnern und Erinnerung. Dabei werden berraschende Zusammenhnge sichtbar zwischen erzhlter Erinnerung, Identittsbildung und der Problematisierung brgerlicher Geschlechterrollen.