1、Poetische Ordnungen: Zur Erzhlprosa des deutschen Realismus Verlag Knigshausen & Neumann GmbH, Wrzburg 2007 S201 Stefani Kugler Meine Mutter hats gewollt“ Weiblichkeit und mnnliche Identitt in Theodor Storms Immensee Theodor Storms frhe Novelle Immensee(1850), die 1851 in grndlich berarbeiteter Fass
2、ung in seiner ersten selbstndigen Sammlung Sommergeschichten und Lieder erschien, trug wesentlich zum Bekanntwerden des Dichters und zu seiner knftigen literarischen Einschtzung bei. Fast fnfzig Auflagen bis zum Jahrhundertende zeugen von dem groen, nicht zuletzt auch kommerziellen Erfolg, den die s
3、o ein zeitgenssischer Rezensent nette, zart geschilderte Herzensgeschichte“ in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts erzielte. Eine vergleichbare Bewertung nimmt die gesamte zeitgenssische Kritik vor, wenn sie als die bezeichnenden Merkmale der Novelle vor allem Stimmung, unerfllte Liebe und Resign
4、ation herausstellt Charakteristika, mit denen zugleich auch Harmlosigkeit und Anspruchslosigkeit assoziiert werden. Die neuere Storm-Forschung hat sich von einer solchen unangemessenen Sichtweise, die eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Werken Storms lange Zeit behinderte, verabschiedet u
5、nd auf berzeugende und methodisch vielfltige Art die Modernitt und das hohe knstlerische Niveau der sich durch Offenheit, Multi-Perspektivik und das psychologische Motivierung auszeichnenden Texte nachgewiesen. Hierbei konzentrierte sie sich jedoch auf die Novellen der mittleren und spten Schaffensp
6、eriode, whrend die frhen Prosaarbeiten nur geringe Aufmerksamkeit fanden. Auch Storms ehemals berhmteste Novelle Immensee ist von dieser Tendenz betroffen: Obwohl sie eigentlich lngst vom Vorurteil der bloen Stimmungskunst befreit schien, nherten sich die Interpreten ihrem offensichtlichen Hauptthem
7、a, der problematischen Liebesbeziehung zwischen Reinhardt und Elisabeth, allenfalls ber Umwege und rckten statt dessen Aspekte wie Reinhardts Knstlertum oder den Konflikt zwischen Bildungs- und Wirtschaftsbrgertum in den Vordergrund. Diese Tendenz und die Tatsache, dass zu Immensee seit nunmehr fast
8、 zwanzig Jahren keine Einzelinterpretation mehr vorgelegt wurde, sprechen dafr, dass zumindest fr diese Stormsche Erzhlung der Trivialittsverdacht“ doch noch nicht vollkommen ausgerumt ist. In der folgenden Analyse soll der Schwerpunkt auf der scheiternden Beziehung der Protagonisten Reinhardt und E
9、lisabeth liegen und damit einem Problemhorizont Rechnung getragen werden, der das gesamte sptere Werk Storms von Aquis submersus bis hin zum Schimmelreiter begleitet: dem komplizierten Verhltnis der Geschlechter. Dabei wird sich zeigen, dass die Grnde fr das Scheitern der Liebesbeziehung nicht, wie
10、sonst zumeist vorausgesetz wurde, in ueren Zwngen der brgerlichen Gesellschaft, sondern in Reinhardts Selbstentwurf als Mann, der zugleichen Brger und Knstler ist, zu suchen sind. In diesem Kontext kommt Reinhardts Begegnungen mit einer nicht-brgerlichen Frau, einem Zithermdchen mit feinen zigeunerh
11、aften Zgen“, an zentralen Stellen der Novelle eine wesentliche Bedeutung zu. Obwohl die Zigeunerin eine Nebenfigur ist, hat sie dennoch eine wichtige Funktion innerhalb des frhrealistischen Texts inne, der um zeitgenssische Probleme mnnlicher und weiblicher Geschlechtsidentitt kreist. Die bereits au
12、s anderen literarischen Werken des 19. Jahrhunderts bekannte Verbindung zwischen Geschlechter- und Zigeunerthematik spielt auch in Storms Erzhlung eine bedeutsame Rolle: In der Konfrontation mit der fremden Frau, der Zigeunerin, berlagern sich kulturelle und sexuelle Fremdheitserfahrungen des brgerl
13、ichen Protagonisten. Wie zahlreiche Novellen Storms wird Immensee aus der Erinnerungsperspektive erzhlt und gliedert sich in eine Rahmen- und eine Binnengeschichte. Im Rahmen trumt sich ein bejahrter Mann der gealterte Reinhardt sehnschtig in seine Vergangenheit und zu seiner Jugendliebe Elisabeth z
14、urck; seine Erinnerungen strukturieren die Haupthandlung, in der in chronologischer Reihung verschiedene Stationen der letztlich scheiternden Beziehung entwickelt werden. Zunchst wird der alte Reinhardt jedoch als Person eingefhrt, die zwar finanziell abgesichert in brgerlicher Behaglichkeit, aber e
15、insam ihren Lebensabend verbringt. Dem von einem Spaziergang zurckkehrenden alten Mann mit etwas sdliche Akzent“, der auf der Strae fast wie ein Fremder“ wirkt, folgt die Auenperspektive aus einer gewissen Distanz ins Haus hinein, ber die enge Treppe“ bis in ein mig groes Zimmer“. Durch die Verengun
16、g der Perspektive und die folgende Beschreibung des Raumes entsteht der Eindruck, das Leben des Bewohners dieses Ortes unterliege gewissen Einschrnkungen. Denn obwohl seine gutbrgerliche Welt heimlich und still“ (ebd.) ist und somit Sicherheit und Ruhe bietet, erweist sie sich zugleich auch als lebl
17、os, beengt und schwerfllig“. Die verlorene Jugend“ des Mannes deutet auf innere Verluste hin, auf in der Jugendzeit gehegte Glckshoffnungen, die sich in seinem Leben nicht erfllt haben. Da das Bildnis einer Frau, Elisabeth, den Anlass fr die trumerische Flucht des alten Manners aus der Isolation und
18、 dem Ernst der Gegenwart in die Vergangenheit abgibt und sie auch im Folgenden seine Erinnerung beherrscht, liegt ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Abwesenheit der Frau und seinem Mangel an Lebensglck nahe. Von ihrem Portrt geht fr ihn ein so starker Reiz aus, dass er ber seinem Anblick Ze
19、it und Raum vergisst: Nun trat er = der Mondstrahl ber ein kleines Bild in schlichtem schwarzen Rahmen. Elisabeth! sagt der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt; er war in seiner Jugend“. Ob der altgewordene Reinhardt der Rahmenerzhlung sich oder anderen die Schuld fr
20、sein Unglck gibt bzw. berhaupt nach Erklrungen dafr sucht, bleibt aufgrund der Beschrnkung auf die Auenperspektive offen, so dass es zur Aufgabe des Lesers wird, den Ursachen fr das Vergehen seines Glcks nachzuspren. Konkurrenz Erichs ausgeht, sondern untersttzt durch seine vllige Passivitt indirekt
21、 dessen Werbung muss doch Elisabeth aufgrund seines Schweigens glauben, er habe das Interesse an ihr verloren. Zugleich ist Elisabeth durch Reinhardts Schweigen jedes Argument gegen eine Zweckehe mit Erich genommen, auf die ihre Mutter mehr und mehr drngt. Das groe Los“, das Erich mit seiner Heirat
22、im Nachhinein gezogen haben will, hat Reinhardt ihm letztlich selbst zugespielt. Die Konfliktlage gestaltet sich also komplizierter, als man auf den ersten Blick vermuten knnte, und auch die durch das Lied Meine Mutter hats gewollt“ angebotene Deutung bleibt unzureichend, da sie zwar Elisabeths Hand
23、eln beleuchtet, nicht aber Reinhardts Verhalten zu erklren vermag. Im Zentrum von Storms frher Novelle steht nicht primr der Konflikt, der Elisabeth aufgezwungen wird, sondern der Wilderstreit im Inneren Reinhardts, der zentralen Figur der Rahmen- und Binnenerzhlung. Die Unentschlossenheit des junge
24、n Mannes fhrt dazu, dass sein Leben noch im Alter entfremdet und unglcklich ist. Reinhardt unterliegt einem unbewussten Zwang, Elisabeth aufzugeben, der bereits in seiner frhesten Jugend angelegt ist zu dem Zeitpunkt, an dem die Erinnerungen des alten Reinhardt einsetzen. Autorin: Dr. Stefani Kugler
25、 Universitt Trier FB II Germanistik Neuere deutsche Literaturwissenschaft Schwerpunkte Lehre und Forschung: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Exilliteratur, Interkulturelle Germanistik, Gender-Studien, Realismus. Vita: geb. 1971; 1990-1996: Studium der Fcher Germanistik, Geschichte und Philoso
26、phie an der Universitt Trier; 1996: Erste Staatsprfung fr das Lehramt an Gymnasien in den Fchern Deutsch und Geschichte; 1997-2000: Wissenschaftliche Mitarbeiterin im interdisziplinren DFG-Forschungsprojekt Das Subjekt und die Anderen; 2000-2003: Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs Identitt und
27、Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalitt (18.-20. Jahrhundert); 2003: Promotion; seit 2003 Lehrkraft fr besondere Aufgaben im Fach Germanistik / Neuere deutsche Literaturwissenschaft; seit 2005 Mitarbeiterin im Teilprojekt C5 Fremde im eigenen Land. Zur Semantisierung der Zigeuner vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart und Leiterin des Arbeitskreises Visuelle und sprachliche Reprsentationen von Fremdheit und Armut im Rahmen des SFB 600 Fremdheit und Armut.